c't 4/2022
S. 170
Wissen
Vergaberecht und IT-Projekte

Vergebene Chancen

Wie missverstandenes Vergaberecht staatliche IT-Projekte behindert

Für seine IT-Projekte muss der Staat bei der Beschaffung auf Wirtschaftlichkeit achten und sich ans Vergaberecht halten. Doch Kritiker bemängeln, dass Behörden dieses Recht nicht verstehen, dadurch Innovationen verhindern und am Bedarf vorbei einkaufen. Dabei zeigen Beispiele aus der Praxis, dass der Staat das Recht und seine Spielräume für sich ausnutzen und Fehlinvestitionen vermeiden kann.

Von Jan Mahn

Wenn der Staat einkauft, kann es gewaltig knirschen. Zweifelhafte behördliche Investitionen liefern viel Stoff für Lokalzeitungen und TV-Satiresendungen. Auch bei staatlichen IT-Projekten gibt es mancherorts kostenträchtige Fälle von Schildbürgertum. Als Schuldiger wird dann oft das (europäische) Vergaberecht gebrandmarkt: Es sei schuld daran, dass der Staat vielerorts zu langsam und vor allem immer wieder das Falsche einkauft, dass Schulen nicht zügig digital ausgestattet werden und Software der Verwaltung schon veraltet ist, wenn sie endlich einsatzbereit ist. Zwingt das Gesetz die staatlichen Einkäufer wirklich zu schlechten Investitionsentscheidungen? Das wäre ein handfestes politisches Problem, denn Geldverschwendung kann nicht im Interesse des Gesetzgebers sein.

Dieser Artikel soll all jenen Orientierung bieten, die auf beiden Seiten des Behördenschreibtischs – als Behördenmitarbeiter oder Anbieter – mit Vergabeverfahren im IT-Bereich zu tun haben, und mit Mythen und Missverständnissen aufräumen. Wenn sich schlecht geplante und durchgeführte Vergaben häufen, ist das auch ein Problem der Politik – denn die Ergebnisse vieler Beschaffungen haben direkte Auswirkungen auf die Bürger; mehr dazu im Kommentar auf Seite 174.

Im Rahmen der Recherche sprachen wir mit Rechtsanwalt Harald Nickel. Der Hanauer vertritt seine Mandanten, darunter mehrere Städte, bundesweit bei öffentlichen Bau- und Beschaffungsprojekten, lehrt europäisches Vergaberecht an der Hochschule Darmstadt und fordert von Behörden mehr Mut bei Vergabeverfahren. Seine Prognose zu staatlichen Digitalprojekten nach den Erfahrungen mit der Pandemie: „Alle werden jetzt losrennen und Dinge digitalisieren, aber sie werden bei der Vergabe die ausgetretenen Pfade beschreiten.“ Welche Pfade das sind und wo es speziell für Digitalinvestitionen bessere Wege gibt, zeichnet das Folgende nach.

Rechtliche Grenzen

Privatpersonen, Vereine und private Unternehmen, die ihr eigenes Geld ausgeben, können Geschäfte mit Partnern machen, denen sie vertrauen oder die ihnen sympathisch sind. Sie können ihre Ware auch immer beim selben Lieferanten einkaufen, selbst wenn ein anderer nur die Hälfte des Preises verlangt – es besteht Abschluss- und Partnerwahlfreiheit. Behörden auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene sowie staatliche Unternehmen haben diese Freiheit nicht. Schließlich geben sie nicht ihr eigenes Geld aus, sondern arbeiten mit dem Geld der Bürger. Gleich mehrere Gesetze und Verordnungen regeln daher, wie der Staat einkaufen darf: allen voran das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und mehrere Verordnungen. Daraus lassen sich sechs zentrale Grundsätze und Gebote destillieren, an die sich staatliche Einkäufer halten sollen:

  • Wettbewerbsgrundsatz
  • Wirtschaftlichkeitsgebot
  • Gleichbehandlungsgebot (Diskriminierungsverbot)
  • Verhältnismäßigkeitsgebot
  • Transparenzgebot
Rechtsanwalt Harald Nickel lehrt europäisches Vergaberecht an der Hochschule Darmstadt.
Bild: Harald Nickel

Der Wettbewerbsgrundsatz soll die Wirtschaftlichkeit der Beschaffung garantieren: Wenn möglichst viele Marktteilnehmer an Vergaben teilnehmen, ist wahrscheinlich das bestmögliche Angebot dabei und der Staat kommt möglichst wirtschaftlich (nicht zu verwechseln mit „billig“) an die Leistungen und Waren. Haushaltsmittel sollen schließlich sparsam verwendet werden. Zugleich muss der Staat alle Beteiligten gleich behandeln, darf also niemanden bevorzugen oder diskriminieren. Wer gleiche Leistungen anbietet, darf gleiche Behandlung erwarten. Bei großen Aufträgen kommt in dem Zusammenhang noch das europäische Recht ins Spiel – ein Anbieter darf nicht deshalb benachteiligt werden, weil er aus einem anderen EU-Land kommt.

Die Forderung nach Verhältnismäßigkeit besagt: Der Staat darf nur Geld ausgeben, wenn die Investition einem legitimen Zweck dient, die Maßnahme geeignet, erforderlich und angemessen ist. Bevor der Staat einen Auftrag vergibt, muss es also einen Bedarf geben, der durch die Investition befriedigt werden kann. Die Forderung nach Transparenz schließlich sichert die anderen Punkte ab. Es genügt nicht, dass ein Sachbearbeiter geheime Notizen macht. Die Verantwortlichen müssen ihr Vorgehen transparent machen, überprüfbar dokumentieren und die nächsten Schritte kommunizieren.

Schwellwertüberlegung

Die erste Frage, die eine Behörde vor der Beschaffung beantwortet, entscheidet direkt, welches Recht anzuwenden ist: Die vergebende Stelle muss einschätzen, wie teuer die geplante Beschaffung voraussichtlich wird. Liegt die Summe unter einem Schwellwert, sind die Modalitäten der Vergabe im Haushaltsrecht von Bund und Ländern geregelt, ausformuliert in Verwaltungsvorschriften. Es handelt sich um sogenanntes Innenrecht der Verwaltung, also eine interne Angelegenheit des Staates. Bieter oder andere Externe können aus diesen Vorschriften keine Rechte ableiten; Unternehmen können zum Beispiel keine Prüfung eines Verfahrens beantragen, wenn sie sich benachteiligt sehen.

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