c't 4/2022
S. 118
Wissen
Social-Media-App
Bild: Rudolf A. Blaha

Kalkulierte Emotionen für Milliarden

Was die Videoplattform TikTok so erfolgreich macht und wo ihre Gefahren liegen

Kinder und Jugendliche lieben TikTok, Verbraucherschützer und Politiker kritisieren die Plattform für kurze Handyvideos scharf. Was ist das Besondere an dem Dienst und wo liegen die Probleme? Ein ausführlicher Blick auf die Algorithmen, die App, das Geschäftsmodell und die Nutzerschaft.

Von Ludwig Gundermann und Jonas Mahlmann

TikTok ist ein Riesenerfolg. Im September 2021 hat der Dienst des chinesischen Anbieters ByteDance nach eigenen Angaben die Marke von einer Milliarde Nutzern geknackt. Hierzulande nutzten 2020 laut ARD/ZDF-Onlinestudie bereits 19 Prozent der unter 30-Jährigen den Kurzvideodienst. Laut JIM-Studie (Studien „Jugend, Information, Medien“ des deutschen Forschungsverbunds Südwest) schaute sich 2020 fast jeder zweite 12- bis 19-Jährige auf TikTok mehrfach wöchentlich Kurzclips an. TikTok wächst weiterhin stark und zählte auch in den letzten Monaten zu den am meisten heruntergeladenen Apps in den App-Stores.

Wie erreicht TikTok diesen immensen Zulauf? Sicherlich spielte die Coronakrise eine große Rolle. Jugendliche und Erwachsene hatten mehr Zeit, Inhalte aus dem Netz zu konsumieren, als bisher. Die Kurzvideos auf TikTok haben dabei offenbar die Bedürfnisse vor allem junger Surfer besser bedient als die anderer Plattformen.

TikToks Videoeditor erkennt Gesichter automatisch und wertet sie mit raffinierten AR-Effekten auf.
Bild: TikTok-App

Der Betreiber ByteDance hat es verstanden, rund um Clips von meist 15 bis 45 Sekunden Länge ein neues Medium und Geschäftsfeld aufzubauen. Die TikTok-App präsentiert die kurzen Videos geschickt und macht es so einfach wie möglich, sie zu abzurufen. Sobald man die App öffnet, startet das erste Video automatisch. Wer TikTok das erste Mal ausprobiert, dürfte zunächst ein Tanz-, Tier-, Comedy- oder Lip-Sync-Video zu sehen bekommen, bei dem ein TikToker seine Lippen synchron zur Musik bewegt. Diese Genres sind die beliebtesten bei TikTok.

Die App ist nicht auf solche Trendinhalte beschränkt. Es gibt viele tieferschürfende Videoproduzenten auf TikTok und auch etliche etablierte Medien publizieren dort, etwa die Tagesschau, und sogar Heise hat dort seinen Kanal für Tipps und Tricks. Gefällt dem Zuschauer ein Video nicht, ist er mit einem Wisch (Swipe) beim nächsten.

Wer nach mehreren Swipes kein passendes Video gefunden hat, dem schlägt der „Entdecken“-Bereich ein größeres Spektrum an angesagten Themen und Influencern vor. Man kann auch gezielt auf die Suche gehen. Wer einen konkreten Suchbegriff (etwa „comedy“) eingibt, dem zeigt TikTok thematisch verwandte Videotrends, Sounds („Say whaaaat?“) und Hashtags (#Comedy Challenge). So finden auch Unerfahrene schnell Videos, die sie interessieren.

Schnell zusammengeklickt

TikTok macht es seinen Nutzern sehr einfach, unterhaltsame Kurzvideos mit allerlei Bling-Bling zu produzieren (maximal 180 Sekunden). Das fängt schon damit an, dass der Video-Editor der App die aktuellen Chart-Hits und Sounds (klatschen, weinen, lachen) anbietet, mit denen sie ihren Videos eine emotionale Note verleihen können.

Morphing-Effekte verwandeln Jungen- in Mädchengesichter, Heiligenscheine beleuchten Selfie-Gesichter und eine intelligente Bildanalyse lässt animiertes Konfetti realistisch hinter Objekten verschwinden. So kann aus einem flüchtig aufgenommenen Videoclip ein Effektfeuerwerk mit viel Reichweite werden.

Ist das Video fertig, versieht man es mit passenden Hashtags (#Hund, #Tanzen, #Humor), damit es sich besser finden lässt. Hashtags sind ein wichtiges Element für die Vernetzung der TikToker. Hashtags spielen auch bei einer TikTok-Spezialität eine Rolle: Sie helfen bei sogenannten Duets, ein zitiertes Video zu benennen. Bei Duets reagieren Produzenten auf die Videos anderer Nutzer.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe anderer sozialer Funktionen, so kann man andere Videos mit Herzen oder Likes markieren, sie kommentieren und Produzenten folgen. Gefällt einem Nutzer ein Video besonders gut, kann er dem Producer auch virtuelle Geschenke machen.

Bild: nach Daten von www.statista.com

Das Geschäftsmodell

Um TikTok zu verstehen, muss man sich das Werbekonzept anschauen. TikTok baut Werbung (Ads) auf unterschiedliche Arten in seine Videofeeds, die Landing- und Entdecken-Page ein. ByteDance und Firmen, die auf TikTok werben, arbeiten mit Influencern zusammen, die Werbebotschaften und Produkte nicht nur im Umfeld platzieren, sondern in ihre Videos einbauen.

Die Werbemöglichkeiten vermarktet ByteDance über seine Plattform „TikTok for Business“. Wenn Nutzer durch den Videofeed scrollen, zeigt TikTok Werbung als sogenannte In-Feed-Ads zwischen den Videos an, ähnlich wie bei Facebook-Stories. Anzeigen, die direkt beim Öffnen des Videos angezeigt werden, nennt TikTok Brand Takeover Ads. Sie bestehen aus einem Bild oder einer kurzen GIF-Animation. Ein integrierter Button lenkt Nutzer auf den TikTok-Kanal des Unternehmens, auf dem sie mehr über Werbeaktionen und Produkte erfahren. Filmstudios wie Twentieth Century Fox bewerben so etwa ihre aktuellen Kinofilme.

Videoeffekte, die speziell auf werbende Firmen zugeschnitten sind, peppen als sogenannte Branded Effects Videos auf.Damit können TikToker ihre Videos mit besonderen Augmented-Reality-Objekten schmücken, etwa eine Löwenmaske von Disney auf das eigene Gesicht projizieren, während sie zu einem Hit von Lady Gaga tanzen. Weil solche Effekte nur für kurze Zeit im Editor verfügbar sind, sind sie etwas Besonderes und bekommen mehr Reichweite.

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